… ich seh’ die Welt, widewide wie sie mir gefällt … Über die Authentizität der Fotografie, Teil 4

Ein digitales Bild kann auf vielfältige Weise entstehen. Es kann reine, unbearbeitete Fotografie sein. Es kann sich aber auch um eine komplett am Rechner entstandene foto-realistische Illustration handeln. Und so ziemlich alles dazwischen.
© Hans-Georg Merkel für EGGER & Cie

Etwas Virtuelles existiert nicht in der Wirklichkeit, erscheint aber echt. Nehmen wir ein Beispiel für ein durchaus denkbares Bild: Ein im Rechner erzeugter Geländewagen wirbelt den im Rechner generierten Staub einer im Rechner erzeugten Landschaft auf. Und alles wirkt auf die Betrachter echt, weil das Bild durch den Look vorgibt, eine Fotografie zu sein. Oder anders ausgedrückt, es erscheint authentisch, da durch die Erfahrung des Betrachters eine Fotografie mit dem Abbild der erlebbaren Wirklichkeit gleichgesetzt wird.

Die Lage für die Betrachter eines Bildes spitzt sich zu

Dass die Authentizität einer Fotografie schon zu analogen Zeiten kritisch betrachtet werden sollte, ist innerhalb dieser Serie deutlich geworden. Manipulationen auf der einen Seite und Fehlinterpretationen auf der anderen gab es schon immer und wird es auch immer geben. Dennoch hat sich mit Einführung der digitalen Bildbearbeitung und kurz darauf mit der unaufhaltsamen Verbreitung der digitalen Fotografie vieles, wenn nicht alles, entscheidend verändert.

Man muss heute nämlich gar nicht mehr in jedem Fall mit Licht zeichnen, also fotografieren. Ein digitales Bild, das durch die Betrachter mit einer Fotografie gleichgesetzt wird, kann Pixel für Pixel von Null an aufgebaut werden. Eine Garantie, dass ein abgebildetes Objekt tatsächlich existiert oder der Abbildung nahe kommt, gibt es dementsprechend nicht. Damit entspricht der Informationswert des Digitalbildes wieder dem der Stahlstiche aus Katalogen und Anzeigen des ausgehenden neunzehnten und beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts. Das dargestellte Objekt kann so aussehen wie das Bild, muss aber nicht. Es ist, wie auf vielen Lebensmittel-Verpackungen angegeben, eher ein Serviervorschlag.

Die Annahme, dass Bildinhalte eines Fotos reell sind, hat im digitalen Zeitalter endgültig ihre Gültigkeit verloren. Heute muss wohl eher vom Gegenteil ausgegangen werden – zuerst ist die Natur der Bilder virtuell. Damit entledigt sich die Fotografie endlich des Vorurteils, das sie seit ihrer Erfindung begleitet. Sie kann nicht weiterhin einfach als Abbild der Realität wahrgenommen werden. Sie wird endlich zum Bild und verliert dabei aber einen wesentlichen Teil ihrer Eigenständigkeit als bildgebendes Medium oder Form der Kunst. Und sie verliert an Vertrauen ihrer Betrachter.

Content Authenticity Initiative

Um eine gesunde Vertrauensbasis zu schaffen, haben Ende 2019 Adobe, New York Times und Twitter die Content Authenticity Initiative (CAI) angekündigt. Dieses plattformübergreifende System (es ist nicht nur für Adobe Anwendungen gedacht) soll Bildschaffenden und Verlagen ermöglichen, Informationen an digitale Inhalte anzuhängen. Das reicht vom Augenblick der Erstellung des Inhalts bis zum Umfang der Nachbearbeitungen und inhaltlicher Veränderungen. Die Betrachter des visuellen Contents sollen auf diesem Weg eine größere Sicherheit über die Authentizität der von ihnen konsumierten Inhalte gibt.

Ob sich diese Initiative erfolgreich etablieren wird hängt sicherlich von vielen Faktoren ab, die hier noch gar nicht zu überblicken sind. Welche Informationen bestimmen denn über die Authentizität eines digitalen Bildes? Welche sind redundant? Und wieso sollte ein Bildschaffender denn alle kleinen und großen Geheimnisse aus seinem digitalen Fotolabor preisgeben? Warum sollte ein Auto-Fotograf offenlegen, aus wie vielen Einzelschüssen das letztendliche Bild gebastelt wird? Und liegt es im Interesse des Werbetreibenden, zu zeigen wie sein Fahrzeug für die Reklame aufgehübscht wurde? Man wird sehen.

Wir alle müssen lernen, Bilder neu zu lesen

Dienen ein digitales Bild oder ein digital erzeugter Film der reinen Unterhaltung ist die Authentizität der Darstellung unproblematisch – it’s just for fun. Aber wie sieht es mit verbindlich wirkenden Produktabbildungen, Dokumentationen oder Reportagen aus? Welchen Wert haben sie, wenn der Wahrheitsgehalt dieser vermeintlichen Fotografien nicht überprüfbar ist, die Betrachter aber verlässliche Informationen erwarten? Die Content Authenticity Initiative beschreitet den Weg, dass diejenigen, die digitalen Content erstellen oder verbreiten, ihr Vorgehen offenlegen. Aber das ist nur die eine Seite. Die andere liegt und wird immer beim Betrachter liegen.

Um die Authentizität von Inhalten zu überprüfen, reicht es längst nicht mehr, sich einfach berieseln zu lassen. Es ist nicht mehr damit getan, wie Pippi Langstrumpf zu singen „… ich seh’ die Welt, widewide wie sie mir gefällt …“ oder sich bestürzt betrogen zu sehen, wenn Zweifel aufkommen. Das Rezipieren wird zu einem aktiven Prozess, durch den die Authentizität des Gesehenen mit den Mitteln des Betrachters überprüft wird. Wer sich dem entzieht, muss damit rechnen, getäuscht zu werden.

Der viel zitierte „mündige Bürger“ muss zum „mündigen Betrachter“ werden. Das ist selbstverständlich leichter gesagt als getan, aber unerlässlich. Und dabei geht es gar nicht nur darum, Betrug oder Manipulation durch diejenigen, die Bilder erschaffen oder verbreiten, zu entlarven. Es geht darum, sich ein eigenes Bild vom gesehenen Bild zu machen, es zu bewerten und die faktischen wie emotionalen Informationen korrekt für sich selbst einzuordnen.

Dazu kommt, dass bisher nur das pure Bild, digital oder analog, Gegenstand der Betrachtungen war, aber die überwiegende Masse an Bildern erreicht die Betrachter in einen Kontext eingebettet, meist in Form von Textelementen. Und die können alles verändern. Darüber mehr beim nächsten Mal.

Textquelle: Text © Thomas Hobein

Bildquelle Beitragsbild: ©Hans-Georg Merkel

Bildinformation:

Das Titelbild ist ein Motiv einer Anzeigenserie, die der Landauer Fotograf Hans-Georg Merkel für die renommierte Schweizer Maschinenbaufirma EGGER & Cie in Szene setzt und Thomas Hobein konzeptionell betreut wird. Das Bild ist sozusagen ein Hybrid. Die abgebildete Maschine, eine Industriepumpe, ist das Ergebnis reiner (Digital)-Fotografie, der umgebende Raum wurde mit Hilfe eines Computer-Programms erzeugt. Die Idee des Fotografen ist, die Maschine aus der banalen Anwendungsumgebung zu reißen und sie in eine Art Museum oder Ausstellungsraum zu versetzen, um die dahinter steckende Ingenieurskunst und Verarbeitungsqualität spürbar zu würdigen. Die Authentizität des Bildes leitet sich also aus dem werblichen Konzept der Marke und ihren Werten ab und nicht aus einer Fotografie, die akribisch den Gesetzen einer Reportage folgt.

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